Realize your true potential. Sei einfach du selbst. Emanzipation! Sind die Mantren unserer Zeit. Das amerikanische Century of the Self greift mit seiner überzeugenden Ideologie um sich und Selbstoptimierung und -darstellung werden zunehmend zum Sinn des Lebens. Du bist privilegiert und dir stehen alle Möglichkeiten offen, mach was aus deinem Leben. Abgesehen davon, dass das auch eine große Bürde sein kann, bin ich natürlich als weißer, männlicher Mitteleuropäer wirklich privilegiert und ein potentieller Master of the Universe.
I am a passenger – The world was made for you and ME.
Allerdings frage ich mich, ob ich als Passagier wirklich so leben kann wie ich will. Was ist mit dem Lokführer, den Zugbegleitern, dem Rauchverbot und meiner Fahrkarte? Dieser Hintergrund wird immer vor der suggeriert absoluten Freiheit ausgeblendet, die Eigentum und Liberalismus versprechen. Somit stehe ich vor der Wahl: Kaffee mit oder ohne Milch? Bleibe ich ein ärmlicher Aktivist oder erklimme ich die Karriereleiter? Ich möchte aber Kaffee ohne Sahne, ohne verschleierte Implikationen. Hier bietet sich auch eine Analogie zur Theorie der Gewalt an. Natürlich bin ich gegen Gewalt vor dem Hintergrund, dass es keine Gewalt gibt. Aber auch hier blendet ein ideologischer Schirm strukturelle Gewalt, die täglich millionenfach durch Polizei, Militär und Unternehmen im Namen der Freiheit und des Kapitals verübt werden, aus.
Man sagt mir, ich müsse nur meinen Teil zur Gesellschaft beitragen, dann erhielte ich auch eine angemessene Fahrkarte und an die Regeln, wie das Rauchverbot, habe man sich eben zu halten.
„Er ist nur verbittert, dass er selbst nicht Zugführer ist, aber wenn er sich anstrengt und in eine Partei eintritt kann das ja noch werden,“ würde mir wohl entgegnet. Ich will kein Zugführer sein und habe nicht den Anspruch irgendwem zu sagen, wie er zu leben hat. In diesem Sinne bin ich liberaler als ein Libertärer. Global befinden sich Menschen in verschiedenen Religionen, Kulturen und zivilisatorischen und technologischen Milieus. Man kann Menschen nicht seine Lebensweise aufzwingen. Diese Erfahrung haben wir mit den großen aufklärerischen, apokalyptischen Projekten, wie Kommunismus und Nationalsozialismus und unlängst im Irak und in Afghanistan zur Genüge gemacht.
Ich nehme den Liberalismus, auf die Spitze getrieben durch den Objektivismus einer Ayn Rand, also ernster als er sich selbst nimmt, was im Hinblick darauf, dass Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden und hier Subventionen fließen und dort Zölle abgebaut werden, auch nicht besonders schwierig ist. Aber ich nehme ihn sogar ernster, als er sich auf dem Papier ausnimmt und halte es mit Max Stirner: „Ich hab‘ mein‘ Sach auf nichts gestellt.“
Selbst, wenn ihr mich zum Zugführer machtet, so wäre ich immer noch auf den Weichensteller angewiesen, auf den Konzern, der mein Gehalt zahlt und Steuern abführt. Selbst, wenn ich die Zugbegleiter unter Kontrolle brächte, so warteten draußen immer noch Polizei, Militär, EU und NATO. Ich will mein freies Potential entfalten, aber ihr wollt mich nicht lassen. Ich stelle keine Forderungen und wüsste auch nicht an wen, ich steige aus, aber als ich den Fuß auf das Gleis stellen will, falle ich ins Bodenlose. Es gibt nur noch diesen einen Zug sagt ihr mir.
Wie aber kann ich mich dann frei entfalten und ich selbst sein? Ich komme mit Anforderungen klar, aber nur wenn sie ernst gemeint sind. Wenn auf der Inhalts- und der Beziehungebene widersprüchlich kommuniziert wird, nennt man das double bind.
Ist das euer Ernst und wenn ja, dann nehmt euch endlich Ernst, oder ich mache Ernst.
The world is your osyter und ich bin eine Perle. Wenn sie nicht reif wird zerberste ich die Schale.
„Dann geh doch in den Wald oder nach Thailand an den Strand.“
Nein ich bleibe hier und ich bin nicht alleine.
Jeder Dritte weiß, dass Kapitalismus zwangsläufig zu Armut und Hunger führt und sogar 37% assoziieren Kapitalismus mit Krieg. Mit diesen Menschen möchte ich frei leben, um dann auch endlich, wie erwartet, mein volles Potential auszuschöpfen.